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Die Traumwächterin

»Eines Nachts wacht Celine auf und sie ist sicher, dass etwas in ihrem Zimmer ist. Ihre Eltern glauben ihr nicht. Hat sie sich das nur eingebildet? Oder ist da tatsächlich etwas in den Schatten?«

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Die Traumwächterin

Eine mystische Kurzgeschichte

von Elize Ellison

Ich habe immer geglaubt, dass Träume genau da sind und bleiben, wo sie herkommen: im Schlaf. Bereits als Kind fühlte ich, dass das nicht so war. Die meisten Kinder jammern, wenn sie schlafen gehen sollen. Sie wollen noch fünf Minuten vor dem Fernseher sitzen oder Lego spielen. Doch ich wollte nicht schlafen, weil ich mich fürchtete.


Mein Name ist Celine. Lasst mich erzählen, was das Traumreich wirklich ist.


Ich erinnere mich, dass wir gerade in unser neues Haus in Colorado gezogen waren, als ich sechszehn Jahre alt war. In der Nacht hörte man die Grillen zirpen, das sanfte Plätschern des Flusses hinter dem Haus schickte eine behagliche Melodie durch die geöffneten Fenster. Das regelmäßige Geräusch von fließendem Wasser lullte mich jedes Mal ein und schickte mich ins Land der Träume – bis ich plötzlich hochschreckte.


Ich griff mir an den Kopf. Meine Orientierung kam nur langsam zurück und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo ich war. Das Zimmer sah anders aus, gar nicht wie in unserer Wohnung in New York, bis ich mich erinnerte, dass wir nicht mehr dort waren.


Stöhnend sank ich ins Kissen zurück, entspannte mich aber nicht. Ich glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, das mich geweckt hatte. Ein Scharren, das aus der Wand kam. Ob wir Ratten hatten? Nein, unmöglich, das Haus war kernsaniert worden und wir wohnten erst seit Kurzem hier. Mein Atem raste und ich konzentrierte mich darauf, ihn zu verlangsamen. Ein und aus, ein und aus …


Gerade als ich wieder zur Ruhe kam, ertönte ein Quietschen und Scharren direkt über mir und mein Herzschlag setzte aus. Mein Körper spannte sich an, bereit aufzuspringen, sollte von irgendwo … ja, von wo eigentlich? Etwas durch die Decke in mein Zimmer kommen?
Mein Blick haftete an dem weißen Stuck der Zimmerdecke. Langsam schlug ich meine Decke zurück. Der Raum über mir war das Reich meines Bruders, der mit seiner Band auf Tour war und erst Mitte der nächsten Woche zurück sein würde. Es hatte geklungen, als ob jemand einen Stuhl über das Parkett gezogen hätte – doch wer, wenn nicht er? Etwas drängte mich dazu nachzusehen, obwohl ich nicht sicher war, ob ich das wissen wollte.


Ich zog mir meine Hausschuhe an und tapste in den Flur und tastete nach dem Lichtschalter. Als ich ihn fand und umlegte, blieb es dunkel – das Licht funktionierte nicht!


»Mum?«, flüsterte ich in die Dunkelheit. Meine Mutter war im Schlafzimmer, den Gang hinunter. Keine zehn Schritte. Selbst mein Atem kam mir in der Stille wie der Schnitt eines Messers vor, der sich in meine Haut grub. Ich wagte nicht, auch nur einen Schritt in die Finsternis zu tun, denn ich war mir sicher, dass sie mich verschlingen würde.


»Mum?« Dieses Mal war ich etwas lauter. Die Türen in diesem Haus aus der Gründerzeit waren dick, sie würde mich niemals hören, doch ich traute mich nicht, meine Stimme noch mehr zu heben.


Ein Knarren ließ mich zurückschrecken. Ich ging zurück bis zu meiner Zimmertür, mein Atem ging nur stoßweise. Während ich dort stand und hinaus starrte, wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr allein war.


Ich erstarrte.


Die Präsenz war direkt hinter mir, ich fühlte sie, wie sie sich mir näherte. Etwas streifte meinen nackten Arm und ich stieß einen spitzen Schrei aus. Ich stürzte auf den Flur hinaus, achtlos in die Dunkelheit, die ich zuvor gemieden hatte, und riss die Schlafzimmertür meiner Eltern auf.
»Mum, Dad!«, schrie ich. Meine Stimme war eine Oktave höher als sonst.


Mein Vater fuhr hoch, tastete nach seiner Nachttischlampe, doch auch hier funktionierte das Licht nicht. Nur der Vollmond schien hell durchs Fenster hinein und tauchte das Zimmer in ein surreales Licht. »Celine?«, fragte meine Mutter mit verschlafener Stimme. »Schatz, was ist denn los?«


»Mum …«, flüsterte ich, »Mum, da war etwas in meinem Zimmer. Es hat mich berührt …« Meine Stimme war erstickt.


Mein Vater hatte die Tür des Nachtschränkchens geöffnet und holte eine kleine elektrische Laterne daraus hervor und schaltete sie ein. Das grelle weiße Licht tat in den Augen weh, doch nach dem Schrecken der Dunkelheit war es das Schönste, was ich je gesehen hatte. Mein Vater blinzelte gegen das Licht und setzte sich auf. »Liebling, du hast geträumt«, murmelte er. Mir entging nicht, dass er mit meiner Mutter einen Blick tauschte. Damals war mir nicht klar, was er bedeutete.


»Ich bin wach gewesen!«, erwiderte ich wütend.


Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wir hatten das doch besprochen. Keinen falschen Alarm mehr wegen Träumen.« Erneut dieser Blick zu meiner Mutter, den ich nicht deuten konnte.


»Aber das ist kein falscher Alarm!«, protestierte ich. Doch ich merkte schon, dass meine Eltern sich auf keine Diskussion einlassen würden. Tränen der Enttäuschung sammelten sich in meinen Augen. Ich blickte meinen Vater wütend an. Er streckte die Hand nach mir aus, um meinen Arm zu streicheln, doch ich wich zurück. Ich war zu zornig, um mich besänftigen zu lassen.

Als ich in die Tür zu meinem Zimmer öffnete, war meine Wut noch nicht verraucht. Erst nach einigen Augenblicken fiel mir auf, dass die Luft hier drin eiskalt war trotz der lauen Sommernacht. Fröstelnd blieb ich neben dem Bett stehen. Kleine Wolken stiegen vor meinem Mund auf.

»Mum?«, sagte ich mit rauer Stimme.


Meine Mutter musste mich gehört haben durch die angelehnte Tür. Sie kam auf den Flur. »Celine, geh wieder ins Bett.«


Ich schielte ins Halbdunkel meines Zimmers. Einen Moment lang war es still, dann spürte ich plötzlich etwas Kühles an meinem Handgelenk. Meine Hand lag noch immer an der Tür und die Kälte schlängelte sich wie ein Seil um meinen Unterarm und mit einem Ruck wurde ich nach vorn gerissen.


Mein Schrei zerriss die Luft, als ich mit unmenschlicher Kraft in das Zimmer gezerrt wurde und die Tür blitzschnell hinter mir zuschlug. 

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich auf dem Boden meines Zimmers lag und dieser weißliche Dunst um mich herum waberte. Es war kalt, noch viel kälter als zuvor, als ich an meiner Tür gestanden hatte. Als hätte man mich direkt in einen See mit Eiswasser geworfen. Langsam richtete ich mich auf, nicht sicher, ob ich mich überhaupt noch in meinem Zimmer befand. Der Dunst um mich herum waberte wie eine dickflüssige Substanz um mich und als ich meine Hand hob und mit den Fingern hindurchfuhr, entwich ein Schrei meinen Lippen. Der Nebel war eiskalt! Aber das war nicht das Schlimmste. Silberne Linien schlängelten sich von meiner Hand über den Arm, bis sie unter meinem Nachthemd verschwanden. Sie pulsierten, als wären sie bereit, sich zu wehren, falls man mich noch mal angriff.


Blitzschnell zog ich meine Hand zurück. Mir war, als würde ich erfrieren, sollte nicht von irgendwoher eine warme Brise kommen, die den Nebel teilen würde. Die silbernen Linien fluoreszierten im Mondlicht und sandten eine noch größere Kälte durch meinen Körper. Jedenfalls glaubte ich das.


Es kam keine Wärme und bevor ich wusste, wie mir geschah, fiel ich auf die Knie. Wie in Zeitlupe und doch war das Aufkommen auf dem Boden von Schmerz begleitet, als würde mein Körper in tausende kleine Scherben zerspringen, gefroren und zu Boden geworfen wie eine Eisfigur. Ein stummer Schrei entkam meiner Seele, der sich in meinem Inneren entfaltete und mich beinahe zerriss.

Irgendwann war es vorbei. Aber ich war noch immer nicht zurück in meinem Zimmer. Ein silbriges Licht erschien in weiter Ferne, das rasch größer wurde, wie eine aufgehende Sonne. Von dem Licht begleitet trat eine Gestalt auf mich zu. Erst als sie sich hinhockte, erkannte ich meinen Bruder.

 

»Matt«, flüsterte ich, »was ist hier los?«


Hatte ich die Worte laut ausgesprochen? Ich war nicht sicher, ob überhaupt ein Ton meinen Mund verließ.


Aber Matt schien mich gehört zu haben, denn er antwortete: »Du hast es immer geahnt, nicht wahr, Celine?« Seine Stimme klang wie ein Echo, das von weit her kam. Das Licht blendete mich noch immer, aber ich erkannte, dass Matt anders aussah. Seine Haare waren nicht mehr braun, sie waren tiefschwarz und seine warmen braunen Augen waren grau und hart wie Adamant. Er reichte mir die Hand. »Und jetzt bist du hier. Genau wie ich.«


»Ich verstehe es nicht, was ist das für ein Ort?«


»Der Eingang zwischen den Bewusstseinsebenen der Menschen. Ein Tor in die Welt der Träume und in das Reich der Toten. Und du bist soeben in diese Welt hineingezogen worden, weil ein Nachtmahr nach dir griff und deine Kräfte freigesetzt hat. Ich habe gebetet, dass dieser Tag nie kommen würde ...«


Unmöglich, was erzählte er da? Ich ergriff seine Hand und ließ mir von ihm auf die Füße helfen. Er hatte nicht unrecht, ich hatte geahnt, dass etwas mit mir anders war. Als ich ihm in die Augen blickte, tausend Fragen im Herzen, wurde mir klar, dass unsere Eltern es gewusst haben mussten. Dass irgendwann so etwas wie heute geschehen würde.


Stopp, Celine. Du stellst nicht einmal in Frage, dass es wahr ist!


Weil es sich anfühlte, wie nach Hause kommen. Ich fühlte mich zwischen all meinen Mitschülern immer fehl am Platz, aber hier war ich vollständig. »Mum und Dad … sie haben es gewusst und sie wollten, dass das hier nie passiert«, sagte ich und betrachtete geistesabwesend das silbrige Licht. Vielleicht hatten sie Angst gehabt? Angst vor dem, was aus mir werden würde. Ich sah meinem Bruder in die Augen. »Wie kommst du hierher?«


Matt lächelte. Es steckte so viel Traurigkeit in diesem Lächeln, dass mein Herz schwer wurde. »Du bist eine Torwächterin, Celine. Und ich ebenfalls … Du liegst gerade in deinem Zimmer am Boden in einem Schlaf, der dich erst entlässt, wenn du deine Aufgabe angenommen hast. Wenn dein Herz so hart geworden ist, dass du den Menschen die Träume nehmen oder schenken kannst, ohne dass dein Gewissen dich leiden lässt. Genau wie ich …«


»Wenn ich träume und das Tor der Träume bewache«, sagte sie, »dann bist du der Wächter des Tores der Toten?«


Er nickte und ich spann meine Gedanken weiter, obwohl eine innere Stimme mich anschrie, es zu lassen. Dass ich die Wahrheit nicht ertragen würde ...


»Wenn ich träumen muss, um diese Aufgabe anzunehmen, dann musst du …« Die Wahrheit formte sich wie eine mächtige Welle in mir und ich flüsterte: »Nein.«


»Es tut mir sehr leid, wirklich. Ich hatte immer geglaubt, Dad ... ich dachte, er würde es sein. Dass er ausgewählt werden würde.  Aber das Schicksal hat offenbar mich erwählt. Etwas zerbricht, Celine. Zwischen dem Reich der Träume und des Wachens und dem der Lebenden und Toten. Ich habe mich früher oft mit diesen Geschichten befasst, aber nie geglaubt, dass sie wahr sind, bis es mich geholt hat, das Schicksal.«


Ich wandte sich ab. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange. »Wann?«, fragte ich rau.


»Vor ein paar Tagen.«


Ich fragte nicht wie oder warum, oder ob jemand daran schuld war. Die Antwort hätte ich nicht ertragen. Das Schweigen zwischen uns dehnte sich aus und ich wusste nun genau, was Matt gemeint hatte. Dass mein Herz so hart werden musste, dass ich meine Aufgabe annehmen und vollziehen konnte. In diesem Augenblick zerbrach etwas in mir und fügte sich wieder zusammen zu etwas Anderem, etwas Hartem und Unnachgiebigem. »Sie wussten es und haben nie etwas gesagt«, murmelte ich. »Ich muss zurück.«


Matt berührte meine Schulter. Langsam verschwanden das Licht und die Welt um mich herum. »Denk immer daran, dass du nun eine Aufgabe hast«, sagte er noch, bevor auch er verschwand und ich auf dem Boden meines Zimmers erwachte. Ich könnte schwören, dass ich ihn noch etwas hatte flüstern hören. »Finde mich.« Ja, ich würde ihn finden, das schwor ich mir in diesem Moment.

Ich schlug die Augen auf und das Erste, was ich prüfte, waren meine Arme. Die Linien waren noch da! Es war wirklich passiert! Ich fühlte die Kälte nicht mehr, die sich langsam zurückzog, nur an meinem Atem, der Wölkchen bildete, sah ich sie. Mir war nicht schwindelig, wie ich es erwartet hatte. Ich kam auf die Füße.


Aus dem Augenwinkel nahm ich meine Haare wahr. Ich trat auf den großen Spiegel an der Wand zu. Ich hatte silberweißes, langes Haar. Meine Augen hatten die gleiche Farbe wie Matts und waren nicht mehr blau wie zuvor. War ich größer geworden? Ich war sicher, dass mir einige Zentimeter geschenkt worden waren.


Etwas in mir hatte sich verändert, aber ich fand keine Worte dafür. Mit wenigen Schritten war ich bei der Tür. Der Blick auf den Flur hatte sich ebenso verändert. Die Dunkelheit war nicht mehr undurchdringlich, die Angst war von mir abgefallen und ich sah zur Schlafzimmertür meiner Eltern. Erneut zerbrach etwas in mir, dieses Mal heftiger als zuvor und ich fühlte, dass mein Herz noch nicht ganz erkaltet war. Das würde erst geschehen, wenn ich meinen Bruder gerächt hatte. Wenn die Wahrheit, die meine Eltern mit Sicherheit gekannt hatten, mit ihnen gestorben war. Ich war nicht sicher, ob ich diesen Weg gehen konnte, etwas in mir schrie mich an, wegzulaufen und sie in Frieden zu lassen. Dass es falsch war, sie zu verurteilen. Aber wie sollten sie mich aufhalten - ich bestimmte nun über ihre Träume. Sie waren Menschen. Ich war etwas anderes geworden, was ich selbst noch nicht begriff ...


Langsam schritt ich auf die Schlafzimmertür zu.

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